Arrêt du: 19 juin 1984

Thema des Urteils
Balkon, der eine Lücke von 20 cm zwischen Mauer und Geländer aufweist

Sachverhalt
Das Ehepaar J bezog im Frühjahr 1981 eine 3 ½-Zimmerwohnung im dritten Stock eines Neubaus. Vom Wohnzimmer führte eine Türe auf einen Balkon, dessen Brüstung damals aus einer rund 65 cm hohen, nach aussen abgeschrägten Betonmauer und einem etwa 20 cm höher angebrachten Eisenrohr bestand; insgesamt ergab sich eine Höhe von 86 bis 88 cm. In einem Teil der Brüstung war bis auf ihre Gesamthöhe eine Blumennische eingebaut, die nach innen offen, von den Mietern aber nicht bepflanzt worden war.
Frau J begab sich an einem Nachmittag im Sommer 1981 für kurze Zeit ins Erdgeschoss. Während ihrer Abwesenheit verliess ihr damals etwas mehr als zwanzig Monate alter Knabe das Wohnzimmer, wo er mit einem jungen Hund spielte, erkletterte die Balkonbrüstung und stürzte in die Tiefe; er wurde dabei tödlich verletzt.

Prozessgeschichte
Das Ehepaar J klagte gegen den Hauseigentümer und gegen die G-Architektur AG (G AG), welche den Neubau geplant und die Bauleitung übernommen hatte, auf Schadenersatz und Genugtuung.

Der Appellationshof des Kantons Bern verurteilte den Hauseigentümer gestützt auf Art. 58 Obligationenrecht zur Leistung von Schadenersatz und Genugtuung an das Ehepaar J. Soweit sich die Klage gegen die G AG richtete, wies der Appellationshof sie dagegen ab; das Gericht fand, dass die Architekten am Werkmangel zwar ein Verschulden treffe, das durch das Selbstverschulden der Kläger jedoch kompensiert werde.

Das Ehepaar J, der Hauseigentümer und die G AG gelangten ans Bundesgericht. Das Bundesgericht hiess die Begehren des Ehepaars J teilweise gut und verpflichtete den Hauseigentümer und die G AG solidarisch zur Leistung von Schadenersatz und Genugtuung ans Ehepaar J.

Für die Prävention entscheidende Erwägungen des Bundesgerichts

  • Das Gericht ging davon aus, der Knabe sei zwischen der Betonmauer und dem Eisenrohr (Geländerstange) durchgerutscht und dann abgestürzt. Das Bundesgericht hielt fest, dass vorliegend keine Bauvorschriften verletzt worden sind, sei nicht von Bedeutung. Entscheidend sei, dass eine SIA-Empfehlung (damals geltende SIA-Empfehlung 358) über das Ausmass solcher Geländeröffnungen missachtet worden sei. Denn solche Empfehlungen eines Fachverbandes gelten als Ausdruck der üblicherweise zu beachtenden Sorgfalt.
  • Es liege auf der Hand, dass für Balkonbrüstungen im dritten Stock die Sicherungsfunktion der Ästhetik vorgehe und dass es dabei nicht nur auf die Einhaltung der vorgeschriebenen Gesamthöhe, sondern ebenso sehr auf die technische Ausgestaltung der Abschrankung ankomme. Dies gelte insbesondere für Mehrfamilienhäuser, wo mit Kleinkindern gerechnet werden muss, die erfahrungsgemäss unberechenbar seien und nie ununterbrochen beaufsichtigt werden können. Dazu komme, dass der Anreiz zum Durchschlüpfen bei Konstruktionen der vorliegenden Art noch grösser sei, wenn die Betonmauer einem kleinen Kind den Blick in den Garten verwehre, wo sich zur Zeit des Unfalls andere Kinder aufgehalten haben. Deshalb habe bereits der Appellationshof zu Recht einen Werkmangel im Sinne von Art. 58 Obligationenrecht bejaht.
  • Die G AG habe sich aus ästhetischen Überlegungen über die SIA-Empfehlung hinweggesetzt und eine vermeidbare Gefahr geschaffen. Deshalb sei der Werkmangel von den Architekten verschuldet worden und die G AG aus Art. 41 Obligationenrecht haftbar.
  • Auch den Eltern des verunfallten Knaben wurde vorgeworfen, für den Unfall mitverantwortlich zu sein. Der Vater hatte die Gefährlichkeit des Balkons erkannt, es aber bei einer Reklamation beim Vermieter bewenden lassen. Die Mutter hat ihr Kleinkind unbeaufsichtigt bei leicht geöffneter Balkontüre im Wohnzimmer spielen lassen, obschon auch sie um die mangelhafte Abschrankung wusste. Darin sah das Bundesgericht eine Verletzung der Aufsichtspflicht.
  • Das Bundesgericht befand deshalb, dass die Haftung zwischen den Eltern (50%) und dem Hauseigentümer und Architekten (50%) aufgeteilt werden müsse. Unter Berücksichtigung dieser Haftungsteilung sprach es jedem Elternteil auch eine Genugtuungssumme zu.

Folgerungen bfu daraus

  • Dieser tragische Fall und das Urteil machen deutlich, wie wichtig sichere Balkonbrüstungen in Mehrfamilienhäusern sind. Mangelt es an der baulichen Sicherheit, können gerade für Kinder rasch grosse Gefahren entstehen.
  • Gleichzeitig wird in Erinnerung gerufen, dass die Aufsichtspflicht über Kleinkinder sehr sorgfältig wahrgenommen werden sollte.
  • Die konsequente Berücksichtigung technischer Normen des SIA zu Geländern und Brüstungen (heutige SIA-Norm 358) und von diese Normen ergänzenden Empfehlungen von Fachorganisationen (z.B. der bfu) ist empfehlenswert, da damit die üblicherweise zu beachtende Sorgfalt definiert wird. Dies macht dieses Bundesgerichtsurteil sehr deutlich.


(Unveröffentlichter Bundesgerichtsentscheid; publiziert in SG (Sammelstelle Gerichtsentscheide) 1984 Nr. 291)

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