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Höher, weiter, schneller, krasser Risikoverhalten und Social Media

Die Sozialen Medien geben extremen Leistungen im Sport eine Plattform. Wie verändert sich dadurch das Risikoverhalten? Eine Spurensuche – Schritt für Schritt.

Robin Steiner ist mit einem Trampolin im Garten aufgewachsen, wie so viele Kinder. Vor vier Jahren kletterte er erstmals darauf, um mehr zu wagen als einen einfachen Salto. Er hatte ein spektakuläres Trampolinvideo gesehen; das wollte er auch mal ausprobieren. Mittlerweile gehört der 17-Jährige zu den besten Trampolin-Freestylern weltweit. An der ersten Weltmeisterschaft in dieser Sportart – 2022 in London – nimmt er als einziger Schweizer teil und wird als einer von zwei Favoriten gehandelt. Auf dem Gartentrampolin trainiert er längst nicht mehr, sondern auf professionellen Geräten in einer öffentlichen Trampolinhalle.

Ein 6-facher Salto auf YouTube und Instagram

Auf einem grossen Trampolin gelang es Robin als erstem Sportler überhaupt, einen sechsfachen Salto stehend zu landen und dies zu dokumentieren. So ein Sprung ist nur mit Hilfe von Freunden möglich, die ihn ungefähr 10 Meter hoch spicken. Das Video seiner Leistung zeigt er auf Youtube und Instagram unter dem Namen «Flips by Robin». Mittlerweile ist ihm auch ein siebenfacher Salto auf einem Trampolin gelungen. Er steht kurz davor, die achtfache Rotation zu versuchen. «Aber erst muss ich den siebenfachen Salto stehen», sagt der Schüler aus Bern. Ein Schritt nach dem anderen.

Vor zwei Jahren versuchte der Trampolin-Virtuose aus Übermut, einen Schritt zu überspringen. Er verlor in der Luft die Orientierung, landete unkoordiniert im Sprungnetz. Sein Kopf knallte gegen das angezogene Knie – just in dem Moment, als die Schwerelosigkeit in eine Mehrfachbelastung durch das eigene Körpergewicht überging. Ein Sekundenbruchteil, der Robin um ein Haar sein Augenlicht gekostet hätte. Der Unfall zog einen Bruch des Orbitabodens unter dem rechten Auge nach sich, eine Notoperation verhinderte bleibende Schäden. «Ein Schritt nach dem anderen. Das habe ich auf die harte Tour gelernt.»

Freestyle-Sport mit neuen Herausforderungen

Robin Steiner ist ein Pionier im Freestyle-Trampolinspringen. Zwar existiert das akrobatische Trampolinturnen bereits seit den 60er-Jahren als Wettkampfdisziplin, der breiten Masse blieb dieser Sport jedoch vorenthalten, da sich nur wenige Turnvereine die Anschaffung eines dafür erforderlichen Sprunggeräts leisten konnten. Der höchste jemals an einem Wettkampf gezeigte Schwierigkeitsgrad liegt bei einem nach genau festgelegten Kriterien absolvierten Vierfachsalto mit halber Schraube – einem sogenannten Quatriffis.

Die spektakulären Freestyle-Sprünge, die Robin und seine Freunde in den Sozialen Medien zeigen, sind eine völlig andere Sache. «Bei uns geht es weniger um eine technisch korrekte Ausführung als um Kreativität und Style», sagt Robin. Bauchlandung ausdrücklich erlaubt.

Übung bleibt verborgen

Vergleichbar ist diese neue Sportart am ehesten mit dem Snowboarden, das Mitte der 80er-Jahre von Nordamerika nach Europa kam und ebenfalls eine Freestyle-Bewegung in Gang setzte. Unter völlig anderen Voraussetzungen, wie sich Snowboard-Olympiasieger Gian Simmen erinnert. Er gehört zur letzten Generation, die noch ohne Internet aufwuchs. «Als ich 1989 zum ersten Mal auf einem Snowboard stand, orientierte ich mich nicht an der Weltspitze, die war unerreichbar weit weg, sondern an den coolen Jungs aus dem Dorf, die mir zeigten, wie das geht», so der 45-jährige Bündner. Dadurch habe sich automatisch eine gesunde Herangehensweise ergeben: ein Schritt nach dem anderen.

Plattformen wie YouTube, Facebook und Instagram haben dies völlig verändert, ist er überzeugt. «Willst du heutzutage etwas Neues ausprobieren, stehen dir auf dem Smartphone Videoaufnahmen der besten Tricks zur Verfügung. Die Versuchung, das nachzuahmen, ist gross.» Dass hinter einem kurzen Clip oft jahrelanges Training und ein professionelles Team stecken, bleibt verborgen. «Das kann zur Folge haben, dass sich immer mehr Unkundige oder Ungeübte auf Anlagen tummeln und Aktivitäten ausüben, für die ihr Können nicht ausreicht», beobachtet Hansjürg Thüler, Leiter Sport und Bewegung der BFU. 

Mehr Risiko für mehr Likes

Der Beifall, welcher in Form von Likes in den Sozialen Medien wartet, schafft zusätzlichen Anreiz, einen Schritt weiter zu gehen als alle anderen. Diesen Effekt belegt im Freizeitbereich die sogenannte Selfie-Studie der NGO Fundación iO. Sie zeigt auf, dass zwischen 2008 und 2021 weltweit 379 Personen ums Leben kamen, weil sie sich für ein besonders spektakuläres Foto einer Gefahr aussetzten. Ein Leben für ein paar Likes.

Im Sport seien die Likes jedoch selten der einzige Treiber für aussergewöhnliche Leistungen, sagt Thüler. «Der Beifall spielt eine Rolle, keine Frage, daneben sind jedoch auch Aspekte relevant: das persönliche Grenzerlebnis, Freude an der Herausforderung und der eigenen Leistung, Neugierde, die Lust, sich zu messen bis hin zu Imponiergehabe und Gruppendruck.» Oder der Druck, den man sich selber macht, so wie Robin Steiner vor seinem Unfall. «Ich war plötzlich einer der Besten und hatte das Gefühl, das unbedingt weiterhin beweisen zu müssen. Ich glaube, damit habe ich mich schliesslich selbst dazu getrieben, den Unfall zu provozieren.»

Eine Sportart ist praktisch immer nur so riskant, wie man sie ausübt, ist Thüler überzeugt. Dass junge Männer tendenziell dazu neigen, die eigene Unverwundbarkeit zu optimistisch einzuschätzen, ist durch die Verhaltensforschung längst belegt. Die Sozialen Medien geben diesem Phänomen eine noch nie dagewesene Plattform. Dass jedoch die Risikobereitschaft in der breiten Bevölkerung zugenommen habe, bezweifelt Thüler. «Im Gegenteil, die Gesellschaft entwickelt als Ganzes ein immer grösseres Bedürfnis nach Sicherheit.»

Neue Regeln für den Freestyle-Sport

Wird ein Trend also von der Randerscheinung zum Massenphänomen, ergibt sich daraus die Notwendigkeit, neue Regeln, Leitplanken und Standards festzulegen, um eine möglichst sichere Ausübung des Sports zu gewährleisten. Vor 30 Jahren war dies im Snowboard-Sport der Fall. «Heute ist für meine Kids völlig klar: Steige ich aufs Snowboard, ziehe ich Helm und Rückenpanzer an», sagt Gian Simmen. «Aber an den Olympischen Winterspielen 1998 in Nagano galt für Snowboarder noch nicht einmal eine Helmtragpflicht.»

An diesem Punkt steht der Freestyle-Trampolinsport aktuell. Erst vor gut vier Jahren hat die BFU eine Arbeitsgruppe gebildet, die mit Trampolinhallen-Betreibern erstmals sicherheitsrelevante Aspekte diskutierte und die daraus resultierenden Empfehlungen 2020 in einer Fachdokumentation festhielt. «Es freut mich, dass wir die Welle voll erwischt haben», sagt Thüler. «Doch es gibt auch hier noch viel zu tun.»

Sichere Trampolinhallen als Ziel der BFU

In der Schweiz sterben jährlich 140 Menschen bei Sportunfällen; 14 800 verletzen sich schwer. Die BFU arbeitet kontinuierlich daran, diese Zahlen zu senken. Ein nächster Schritt ist für Hansjürg Thüler klar. «Die BFU will die Diskussion lancieren, in Anlagen wie Trampolinhallen oder Snowparks die Zulassung für schwierigere Anlagenteile vom Leistungsniveau der jeweiligen Besuchenden abhängig zu machen.» Ähnlich der Platzreife im Golfsport. Ein abgestufte Zulassung könnte beispielsweise mit einem Kurs gekoppelt werden. «So liesse sich der unreflektierte Nachahmer-Effekt abfedern, der durch die Sozialen Medien einen Teil der Sportlerinnen und Sportler übermässig motiviert», sagt Thüler. Dieser Schritt ist eines der Hauptthemen am BFU-Forum Sport vom 21. Juni 2022 in Bern.

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