Fokus

Im grossen Marketing-Lärm verschafft sich die BFU Gehör

Der Mensch komme jeden Tag mit tausenden Marketing-Stimuli in Kontakt, sagt Uniprofessor Valéry Bezençon. Für BFU-Direktor Stefan Siegrist ist klar: Die Botschaften der Unfallprävention zu platzieren, wird immer aufwendiger. Ein Gespräch über das Auffallen in einer reizüberfluteten Gesellschaft.

Aufmerksamkeit ist für die BFU ein wertvolles Gut. Sie will von der Schweizer Bevölkerung wahrgenommen und verstanden werden, damit weniger Unfälle passieren. Selbst in der Prävention gelingt dies nur mit zeitgemässem Marketing. Wie viel Einsatz dies erfordert, wissen Marketing-Professor Valéry Bezençon und BFU-Direktor Stefan Siegrist. Mit Blick auf den ruhig wogenden Neuenburgersee besprachen die beiden, wie man sich in einer hektischen Welt Aufmerksamkeit verschafft.

Valéry Bezençon, die BFU wirbt, wie Tausende andere Organisationen, um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung. Sie betreibt also Marketing, und das seit ihrer Gründung 1938. Funktioniert Marketing heute noch gleich wie damals?

Bezençon: Oh nein, keineswegs. Im Marketing hat eine fundamentale Verschiebung stattgefunden. Früher hatte man ein Produkt, das im Zentrum stand. Dieses Produkt stellte man der Bevölkerung vor. Heute ist es meist umgekehrt: Man geht von den Bedürfnissen der potenziellen Kunden aus. Das Produkt dient dann dazu, diese Bedürfnisse zu befriedigen.

Wie erkennt man die Bedürfnisse einer Zielgruppe?

Bezençon: Indem man sich mit ihr austauscht. Echter Austausch heisst, dass man nicht mehr einseitig kommunizieren kann wie früher. Die neuen Technologien und Kommunikationskanäle erleichtern diesen Austausch. Idealerweise gelangt man zu einem feinen Verständnis dafür, was der andere sich wünscht.

Ist die Digitalisierung die grösste Veränderung für alle, die immer schon Aufmerksamkeit wollten?

Bezençon: Eine von zweien. Neben der Digitalisierung findet eine immer gründlichere Auswertung von Konsumentendaten statt. Insbesondere bei digitalen Marketing-Aktionen. Da erfährt man beispielsweise, wer die Botschaft zur Kenntnis genommen hat und wer nicht. Man lernt seine Kunden dadurch besser kennen und kann sie gezielter ansprechen. Zusammenfassend kann man das «Datification» nennen. Das ist die zweite grosse Entwicklung.

Siegrist: Ich teile diese Ansicht. Diese Entwicklungen haben der Arbeit der BFU eine neue Richtung vorgegeben. Wir betreiben heute Social Marketing und deshalb seit Jahrzehnten auch Sozialforschung. Das Ziel bleibt dasselbe wie früher. Die Menschen sollen erfahren, wie sie ihr Unfallrisiko senken können. Und sie sollen sich, ob bewusst oder unbewusst, sicherer verhalten.

Die BFU kommuniziert Ideen und Empfehlungen. Das sind doch keine Produkte, die man verkaufen muss?

Siegrist: Ideen muss man letztlich auch vermarkten. Das ist in unserem Fall sogar besonders kompliziert. Denn die Menschen empfinden zwar in vielen Bereichen ein Bedürfnis nach Sicherheit. Doch manchmal lauern die grössten Risiken anderswo, als man sie persönlich erwartet. Wer nicht damit rechnet, dass er eines Tages schwer verunfallen könnte, kann unsere Botschaften leicht übersehen.

Bezençon: Wer sich ab heute so verhält, wie die BFU es sich wünscht, verspürt keinen unmittelbaren Benefit. Das ist etwas völlig anderes als bei einem Produkt. Zum Beispiel kann man beim Kauf einer Coca-Cola sofort den Durst löschen, den süssen Geschmack geniessen und anderen zeigen, wer man ist. Beim Konsumieren einer Marke, nimmt man ihre Werte an sowie den Lebensstil, den sie propagiert und die Emotionen, mit denen sie sich verbinden will. Oft bringt man so unbewusst einen Teil seiner Identität zum Ausdruck.

Siegrist: Als Psychologe bin ich überzeugt, dass es auch in der Prävention ein gesundes Mass an Emotionen braucht, damit sich Menschen an unsere Informationen erinnern. Gleichzeitig muss man darauf achtgeben, es mit den Emotionen nicht zu übertreiben. Beispielsweise stellen wir Unfallrisiken kaum je mit schockierenden Bildern dar. Ein Teil der Menschen würde sich abwenden und die Botschaft verpassen.

Im Marketing versuchen viele, witzig zu sein. Humor kommt bei allen Bevölkerungsgruppen gut an, oder?

Bezençon: Humor hat seine Vorteile. Menschen erinnern sich beispielsweise an lustige Botschaften länger als an neutrale. Er hat aber auch gewichtige Nachteile. Sie können Humor kaum übersetzen, weder sprachlich noch kulturell noch bezüglich persönlicher Vorlieben.

Also ist es besser, nüchtern zu informieren?

Bezençon: Das funktioniert, wenn das Publikum ein Interesse am Thema hat. Die Person muss offen sein für die Botschaft, die man ihr vermitteln will. Eine strikte Impfgegnerin werden sie mit nüchternen Informationen kaum umstimmen. Das gilt in vielen Bereichen. Also muss ich Sie enttäuschen: Es gibt im Marketing keine Zauberformel.

Siegrist: Die Fakten, die wir aus unserer Forschungstätigkeit gewinnen, sind die Grundlage für unsere Prävention. Dadurch sind wir glaubwürdig. Kommunikation ändert sich laufend, aber dieses Faktenorientierte ist bei uns die grosse Konstante.

Wie versuchte die BFU vor der Digitalisierung, diese Fakten der Bevölkerung zu vermitteln?

Siegrist: Früher war man hierarchischer. Man strahlte der Bevölkerung gegenüber Autorität aus.

Sie meinen, als man Personen, die neben dem Fussgängerstreifen über die Strasse gehen, mit Hühnern verglich?

Siegrist: Ja, dieses Plakat gab es. Das ist 58 Jahre her. In der gleichen Epoche trat die BFU auch in den Medien sehr edukativ auf. Der damalige Mediensprecher Eugen F. Schildknecht hatte im damaligen Landessender Radio Beromünster eine eigene Rubrik. Da erklärte er dem Publikum zum Beispiel inbrünstig, wieso es am Strassenrand Leitplanken braucht. Heute ist man natürlich nicht mehr belehrend unterwegs, sondern auf Augenhöhe.

Gut angekommen ist später die Kampagne «Slow down. Take it easy», die vor zwölf Jahren startete. Man setzte auf Personalisierung, kreierte den sympathischen, bärtigen Engel Franky. Würde so etwas heute noch funktionieren?

Siegrist: Das war die richtige Kampagne zum richtigen Zeitpunkt. Facebook befand sich im Aufstieg, wir konnten dort die grösste Community der Schweiz bilden mit einer Viertelmillion Followern. Der Kampagnen-Song erklomm die Hitparade, die Aufkleber zierten viele Autos. Genau gleich würde das mit Franky heute wohl nicht mehr funktionieren.

Bezençon: Ich würde den Erfolg von «Slow down. Take it easy» nicht nur der fiktiven Figur Franky zuschreiben. Der BFU ist damals etwas gelungen, was ich interessant finde. Sie hat das Langsamfahren attraktiv gemacht, ohne jeden mahnenden Zeigefinger. Seien wir ehrlich: Den Menschen zu sagen, sie sollen langsamer fahren, ist nicht sexy, es ist bevormundend. Aber hier wurde das sichere Verhalten als Teil eines relaxten Lebensstils dargestellt. Im Prinzip könnte dies heute genauso gut funktionieren, auch wenn eine solche Kampagne anders aussehen würde.

Damals wurde viel Publikum auf Facebook erreicht. Die Zahl der Kommunikationskanäle hat seither nochmals massiv zugenommen. Was bedeutet das für das Marketing?

Bezençon: Diese Entwicklung begann viel früher. Einst konnte man mit TV-Werbung fast alle erreichen, die Bevölkerung sass vor dem Bildschirm und schaute dasselbe Programm. Heute bewegen sich alle auf zahlreichen Kanälen. Das bedeutet fürs Marketing, die unterschiedlichsten Kanäle zu verstehen und so zu nutzen, damit die Zielgruppe den Botschaften zur richtigen Zeit ausgesetzt ist. Es ist komplizierter geworden.

Siegrist: Genau, es wird komplizierter. Und weil es immer mehr unverzichtbare Kanäle gibt, wird es auch teurer. Wenn wir beispielsweise in die Filterblasen eindringen wollen, welche durch Social-Media-Algorithmen kreiert und verstärkt werden, schaffen wir das nicht allein. Da verlangen Firmen wie Google natürlich Geld dafür.

Bezençon: Es ist keine einfache Aufgabe, sich Gehör zu verschaffen im grossen Lärm, der heute herrscht. Studien zeigen, dass der Mensch heute täglich mehreren tausend Marketing-Stimuli ausgesetzt ist. Und dabei wird es ja nicht bleiben. Das Metaverse, die erweiterte, digitale Realität, an der die Firmen im Silicon Valley tüfteln, wird wohl nochmal eine ganz andere Marketing-Erfahrung.

Bleiben wir vorerst in der Gegenwart. Ist es besonders einfach, die junge Generation zu erreichen, da sie sich mehr auf diesen Kanälen tummelt als ältere Generationen?

Bezençon: Es ist ein weit verbreiteter Fehler, die Jungen als eine einheitliche Gruppe zu sehen. Es gibt auch unter ihnen zahllose Untergruppen und Identitäten. Man muss also verstehen, mit wem sich die Untergruppen identifizieren und wem sie sich anschliessen, um relevant zu sein.

Ist das der BFU bekannt?

Siegrist: Wir orientieren uns sogar sehr stark an dieser Erkenntnis. Ein Beispiel von vielen: Mit einer aktuellen Social-Media-Kampagne wenden wir uns ausschliesslich an Motorradfahrerinnen und Motorradfahrer zwischen 15 und 17 Jahren. Das ist ein klar definiertes Segment.

Ist letztlich die Vorstellung überhaupt realistisch, durch Marketing das Verhalten der Menschen verändern zu können?

Bezençon: Es ist möglich, sofern man Marketing nicht als das reine Verkaufen von Produkten versteht. Für mich ist es ein Ansatz oder ein Weg, um eine gute Lösung für das spezifische Problem eines Segments zu bieten. Handelt es sich bei dem Problem um Risikoverhalten, lässt es sich lösen, indem man die Werte und Motive der Zielgruppe fein identifiziert und das propagierte Verhalten positiv und darauf ausgerichtet neu positioniert.

Siegrist: Genau, auf diese Weise lässt sich das Verhalten positiv beeinflussen. Natürlich reicht Kommunikation alleine nicht aus. Wir haben unsere Botschaften schon immer mit einer Verbesserung der Infrastruktur verknüpft, wo nötig haben wir auch gesetzliche Vorgaben für mehr Sicherheit erwirkt. Kommunikativ kämpfen wir damit, dass schwere Unfälle für die Einzelne und den Einzelnen ein seltenes Ereignis sind. Das Risiko, am nächsten Tag schwer zu verunfallen, ist gering. Wir dürfen daher nicht immer nur von Sicherheit reden, sondern müssen primär auf Vorteile hinweisen. Wir sagen den jungen Erwachsenen: Wenn du sicher fährst, wirst du deinen Fahrausweis behalten dürfen. Das ist eine tolle Sache. Und Skihelm-Skeptiker darf man ruhig auf den Vorteil hinweisen, dass unter dem Helm die Ohren schön warm bleiben.

Valéry Bezençon

Valéry Bezençon ist Professor für Marketing und Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Neuenburg. Seine Expertise umfasst unter anderem Sozialmarketing, Verhaltensänderungen und Nudging. Neben seiner wissenschaftlichen Karriere berät Bezençon Organisationen, die das Verhalten ihrer Zielgruppen ändern möchten.

Stefan Siegrist

Stefan Siegrist, promovierter Psychologe, ist seit 2019 Direktor der BFU. Der Solothurner prägt die Arbeit der BFU in ihren drei Tätigkeitsgebieten – Strassenverkehr, Sport, Haus/Freizeit – seit mehr als 30 Jahren mit. Unter seiner Leitung nutzt die BFU laufend neue Kommunikationswege, um mit ihren Präventionsbotschaften die Zielgruppen von heute und morgen zu erreichen.

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    Jahresbericht 2021

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