Kinderunfälle lösen Emotionen aus. Welche sind es bei Ihnen, als Mutter?
Delphine Meier: Es ist ein aktuelles Thema, das mich sehr beschäftigt. Gestern wurde bei meinem Sohn der Gips entfernt. Vor einem Monat verunfallte er beim Spielen im Wald. Als Eltern tragen wir eine grosse Verantwortung. Wir müssen unsere Kinder vor Gefahren schützen und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit geben, Dinge auszuprobieren und Selbstvertrauen zu entwickeln. Dieser Spagat ist eine Herausforderung, denn jede Situation und jedes Kind ist anders.
Wie verändert sich Ihr Blickwinkel als Forscherin?
Vision Zero, also das Vermeiden von tödlichen Kinderunfällen, bedeutet für mich als Forscherin, dass wir das Unfallgeschehen genau kennen und verstehen. Nur so können wir die richtigen Präventionsmassnahmen ableiten. Schaffen wir Klarheit und gute Regeln, erleichtert das die Aufgabe von Eltern. Sie können sich mehr auf die Situation, die Fähigkeiten und das Temperament ihrer Kinder fokussieren.
Damit sprechen Sie die Grundlage, die Unfalldaten, an?
Verletzt sich ein Kind zu Hause, beim Spielen, unterwegs, in der Schule oder beim Sport, ist die Daten-grundlage unbefriedigend. Schon früher versuchte die BFU ein Monitoring mit Spitälern und Kinderärztinnen aufzubauen. Das gelang damals nicht. Angaben zu Kinderunfällen erhielt die BFU vor 10 Jahren durch eine Haushaltsbefragung bei 15 000 Haushalten, die aktuell erneut durchgeführt wird. Zusätzlich besteht aber ein Bedarf nach einer fortlaufenden Erhebung und Analyse. Dafür führte die BFU eine Machbarkeitsstudie durch. Diese ergab, dass der Einsatz von Künstlicher Intelligenz KI besonders vielversprechend ist, um bereits bestehende Informationen zum Unfallgeschehen aus Patientenakten von Spitälern für Unfallstatistiken verfügbar zu machen.
Also eröffnet künstliche Intelligenz neue Wege?
Absolut. Gestützt auf das Ergebnis der Machbarkeitsstudie haben wir zusammen mit der ZHAW und dem Kinderspital Zürich ein Pilotprojekt mit KI gestartet. Die ZHAW entwickelt nun ein Machine-Learning-Modell, das die Unfallbeschreibung in den anonymisierten Patientenakten von Kindern liest, welche auf der Notfallstation vom Kinderspital Zürich behandelt wurden. Daraus werden die für die Unfallprävention wertvollen Informationen extrahiert.
Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Eine Patientenakte enthält unter anderem den individuellen, geschriebenen Text der behandelnden Ärztin oder des Arztes. Das Machine-Learning-Modell liest diesen Text und soll daraus die für die Unfallprävention wichtigen Informationen zum Unfallgeschehen erkennen und extrahieren. Beispielsweise den Unfallort, den Unfallhergang oder das involvierte Produkt.
Ein praktisches Beispiel dazu?
Steht in der Patientenakte, dass sich das Kind beim Essen bei den Grosseltern an einem Stück Brot verschluckt hat, soll das Modell «bei den Grosseltern» als Unfallort erkennen und in die Begriffskategorie «privater Wohnraum» einordnen. «Beim Essen» beschreibt die Unfalltätigkeit und wird der Kategorie «Nahrungsaufnahme» zugewiesen, «Brot» wird als involviertes Produkt erfasst und der Unfallhergang «sich verschlucken» als «Verstopfung der Atemwege durch ein Nahrungsmittel».
Sozusagen ein Übersetzungsprogramm?
Mehr als das, denn das Modell muss lernen, Zusammenhänge zu erkennen und dass verschiedene Be-griffe das Gleiche bedeuten können, etwa «Daheim» und «Zuhause». Eigentlich ist es, wie wenn man eine neue Sprache lernt, seinen Wortschatz erweitert und dann vor allem alles richtig zuordnet. Manchmal gibt es nicht nur einen einzelnen Begriff, sondern einen ganzen Satz. Ein Unfall beim Fussballspielen kann in einem Verein passiert sein, im Unterricht in der Schule oder im eigenen Garten. Aber vielleicht enthält der Text weder die Begriffe Verein, Schule oder Garten, aber das Programm muss aus dem Kontext das Richtige erkennen.
Sitzt jemand am Computer und überwacht den Lernprozess?
Das übernehmen das Projektteam und die Partner bei der ZHAW. Wir von der BFU geben die dafür notwendige Kategorisierung vor. Jetzt, im Pilotprojekt, werden tausende Patientenakten verarbeitet. In einem ersten Schritt lernt das Modell, basierend auf der manuellen Kategorisierung durch Menschen, Informationen in einer Stichprobe der elektronischen Patientenakten zu erkennen und zu kategorisieren. Anschliessend wird in einer zweiten Stichprobe getestet, wie treffsicher das Modell arbeitet. Dafür werden die Ergebnisse der KI mit jenen einer manuellen Kategorisierung verglichen.
Wie wichtig sind die Partnerschaften?
Sie sind unverzichtbar. Die ZHAW hat die Expertise in Public Health und in Machine Learning. Sie arbeitet bereits mit verschiedenen Spitälern und hat ein Netzwerk im Bereich Kinder- und Jugendgesundheit. Das Kinderspital Zürich stellt für die Entwicklung des Modells 40 000 anonymisierte elektronische Patientenakten von Kinderunfällen der Jahre 2018 bis 2022 zur Verfügung und unterstützt uns mit medizinischer Expertise.
Ein langfristiges Projekt mit ambitioniertem Ziel?
Die BFU setzt zum ersten Mal KI ein, um Datengrundlagen zu verbessern. Ist die Pilotphase erfolgreich und liefert die gewünschten Ergebnisse, streben wir den Aufbau eines Kinderunfallmonitorings basierend auf Daten weiterer Kinderspitäler der Schweiz an. Dabei sind viele spannende Fragen zu beantworten. Beispielsweise wollen wir die Spitäler als Partner gewinnen. Auch das Modell wird Pflege benötigen und muss auf Französisch und Italienisch trainiert werden.
Bringt uns das einen Schritt näher an Vision Zero für Kinderunfälle?
Da hege ich grosse Hoffnung. Einerseits, dass wir ein genaueres Wissen über das gesamte Unfallgeschehen der Schweiz erhalten. Andererseits, dass sich durch ein besseres Verständnis der schweren Unfälle auch tödliche Unfälle verhindern lassen. Beispielsweise von Kindern, die fast ertrunken wären. Solche Fälle landen typischerweise im Spital. Doch aus der bestehenden Unfallstatistik kennen wir nur die wenigen Fälle mit tödlichem Ausgang. Erkenntnisse über die Umstände der beinahe tödlichen Unfälle und deren Trends sind eine wichtige Voraussetzung für Vision Zero. Auch das Wissen über verschluckte gefährliche Gegenstände wie Knopfbatterien oder Magneten wäre wertvoll. Das jeweilige Produkt ist meistens in der Patientenakte erwähnt. Solche Unfallmuster sollte das Modell besonders gut erkennen können. Möglicherweise unterschätzen wir solche Unfälle heute noch. Kennen wir die wirklichen Gefahren, können wir die richtigen Präventionsmassnahmen entwickeln.