Urteil vom: 1. Juni 2004
Prozessnummer: 4C.54/2004

Im Januar 1995 nahm die damals 17-jährige A an einem Ski- und Snowboardlager teil. Nach einigen Fahrten versammelte sich die Gruppe, der A zugeteilt war, um die Talabfahrt in Angriff zu nehmen. Der Gruppenleiter C hatte vorgesehen, mit der Gruppe die rot markierte Piste Y hinunter zu fahren und beauftragte D, einen guten Kenner des Skigebiets, die Gruppe anzuführen. D jedoch verliess zusammen mit zwei weiteren Personen die Piste, um parallel zur Seilbahn im Tiefschnee ins Tal zu fahren. Als die drei dabei weiter unten für kurze Zeit wieder auf die Piste Y gelangten, trafen sie auf A. Diese befand sich am Schluss der von C geleiteten Gruppe. A beschloss, D und seinen zwei Begleitern zu folgen, die nun nicht mehr auf der Piste, sondern parallel zur Seilbahn zu Tal unterwegs waren. Nach einigen Schwüngen stürzte A und schlug mit dem Kopf auf einen mit Schnee bedeckten Stein auf. Der Unfall machte sie zur Tetraplegikerin. Eine anschliessend eingeleitete Strafuntersuchung gegen allfällige Verantwortliche wurde eingestellt. A warf der verantwortlichen Bergbahnunternehmung X in der Folge vor, ihre Verkehrssicherungspflicht nicht erfüllt zu haben und verlangte eine Genugtuung von mindestens Fr. 150'000.-. Ihr Begehren hatte weder vor den kantonalen Instanzen noch vor Bundesgericht Erfolg.

Nach der Rechtsprechung verlangt die Verkehrssicherungspflicht einerseits, dass Pistenbenutzer vor nicht ohne weiteres erkennbaren, fallenartigen Gefahren geschützt werden. Andererseits haben Bergbahnunternehmen, soweit zumutbar, dafür zu sorgen, dass die auch bei vorsichtigem Verhalten unvermeidbaren Gefahren des Skifahrens nicht zur Schädigung der Pistenbenützer führen. Dies deshalb, weil niemandem bei der bestimmungsgemässen Benutzung der Piste ein Schaden erwachsen soll. Auch wenn ein Mindestmass an Schutz immer geleistet werden muss, können nur die üblicherweise erforderlichen und möglichen Sicherheitsmassnahmen verlangt werden (Zumutbarkeit). Eine weitere Schranke der Verkehrssicherungspflicht liegt in der Selbstverantwortung des einzelnen Pistenbenutzers. Ein Fehlverhalten einer Person, die in falscher Einschätzung des eigenen Könnens und der vorhandenen Gelände- und Wetterverhältnisse oder in Missachtung der Signalisation fährt, wird der Selbstverantwortung zugerechnet.

Als Massstab für die Verkehrssicherungspflicht im Einzelfall zieht das Bundesgericht die von der Schweizerischen Kommission für Unfallverhütung auf Schneesportabfahrten ausgearbeiteten Richtlinien für Anlage, Betrieb und Unterhalt von Schneesportabfahrten (SKUS-Richtlinien) sowie die von der Kommission Rechtsfragen auf Schneesportabfahrten der Seilbahnen Schweiz herausgegebenen Richtlinien bei (SBS-Richtlinien, ehemals SVS-Richtlinien). Für Pisten und Pistenrand gelten bezüglich der Verkehrssicherungspflicht andere Anforderungen als für Pistennebenflächen. Für diese besteht nur insoweit eine Sicherungspflicht, als Skifahrer und Snowboarder vor darauf befindlichen besonderen oder aussergewöhnlichen Gefahren durch eine unmissverständliche Signalisation zu schützen sind, die sicherstellt, dass sie wissen, wo die offiziellen Pisten verlaufen.

Gemäss den erwähnten Richtlinien werden sog. „wilde Pisten“, worunter die im freien Gelände von Skifahrern und Snowboardern durch häufiges Befahren geschaffenen Abfahrten zu verstehen sind, vom Verkehrssicherungspflichtigen weder markiert, hergerichtet, kontrolliert noch vor alpinen Gefahren gesichert. Wer eine nicht gekennzeichnete Abfahrt befährt, tut dies in der Regel in eigener Verantwortung und auf eigenes Risiko. Im Bereich von abzweigenden wilden Abfahrten muss nach der Rechtsprechung jedoch mit einer ausdrücklichen Warntafel oder einer Wimpelschnur verhindert werden, dass jemand auf eine nicht gesicherte Strecke mit besonders atypischen Gefahren gerät. Dies deshalb, weil Skifahrer und Snowboarder nicht irrtümlich Routen für die Talabfahrt wählen sollen, auf denen sie sich vor Gefahren sicher wähnen.

Die rund 80 Meter von der Piste Y entfernte Stelle, wo A gestürzt war, lag laut Bundesgericht klar ausserhalb der offiziellen, gesicherten Pisten und des Pistenrandbereichs: Der Unfallhang sei nicht präpariert, nirgends als Piste eingezeichnet gewesen und habe gemäss Zeugen auch nicht wie eine Piste ausgesehen. Es handle sich dabei um freies Gelände. Deshalb habe die beklagte Bergbahnunternehmung die sich auf dem Hang befindenden Hindernisse nicht entfernen müssen, um Skifahrer und Snowboarder zu schützen. Insbesondere sei die Bergbahnunternehmung auch nicht verpflichtet gewesen, den Stein wegzuräumen, auf den A aufschlug. A habe damit rechnen müssen, dass sich im alpinen Gebiet auf einer ungesicherten, wilden Piste unter der Schneedecke natürliche Hindernisse und somit auch grosse Steine befinden könnten. Da an jenem Tag an der Unfallstelle keine besonders grosse untypische Gefahr vorgelegen habe, sei die Bergbahn nicht zu Sicherheitsmassnahmen verpflichtet gewesen. Im Übrigen habe A sich weder darum bemüht, auf den offiziellen Pisten zu bleiben, noch sei sie irrtümlich auf den Unfallhang geraten. Daher wäre - selbst wenn eine Pflicht der Bergbahnunternehmung zur Signalisation, wo die Piste Y aufhört, bestanden hätte - das Unterlassen dieser Sicherungsmassnahme nicht kausal für den Unfall gewesen. Da die verantwortliche Bergbahnunternehmung ihre Verkehrssicherungspflicht nicht verletzt und A den Unfallhang auf eigene Gefahr befahren habe, sei die Haftpflicht der Bergbahnunternehmung gegenüber A von der Vorinstanz zu Recht verneint worden.

(Prozess-Nr. des Bundesgerichts 4C.54/2004, Pra [Die Praxis des Bundesgerichts] 2004 Nr. 145, S. 821)

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