Urteil vom: 21. Februar 2007
Prozessnummer: 6P.217/2006

Sachverhalt
Der Autofahrer X verlangsamte innerorts vor dem Fussgängerstreifen bei einer Tramhaltestelle seine Geschwindigkeit, weil zahlreiche Fussgänger die Strasse überquerten. Anschliessend beschleunigte er sein Tempo wieder auf ca. 20 km/h. Gleichzeitig begab sich der Fussgänger A mit seiner kleinen Enkelin auf dem Arm von der Traminsel zum Fussgängerstreifen, um diesen aus Sicht von X von rechts nach links zu überqueren. Ohne Kontrollblick und obwohl sich das Auto von X bereits auf dem Fussgängerstreifen befand, betrat A den 9,2 m breiten Streifen. Da X nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte, kam es zu einem Zusammenstoss mit A. Dieser erlitt diverse Prellungen am ganzen Körper, die eine langwierige Heilbehandlung erforderten und zu einer teilweisen Invalidität führten. Die Enkelin von A blieb unverletzt.

Prozessgeschichte
In der Folge wurde X kantonal letztinstanzlich am 18.8.2006 wegen schwerer Körperverletzung im Sinn von Art. 125 Abs. 2 StGB (Strafgesetzbuch, Fassung bis Ende 2006) zu einer bedingten Gefängnisstrafe von 20 Tagen sowie einer Busse von Fr. 300.– verurteilt. X wehrte sich gegen dieses Urteil vergeblich vor Bundesgericht:

Für die Prävention entscheidende Erwägungen des Bundesgerichts
Ein Schuldspruch wegen fahrlässiger Körperverletzung setzt voraus, dass der Täter durch Verletzung einer Sorgfaltspflicht einen Menschen körperlich oder gesundheitlich geschädigt hat. Im vorliegenden Fall bestimmte sich das Mass der zu beachtenden Sorgfalt nach den Regeln des SVG (Strassenverkehrsgesetz) und der VRV (Verkehrsregelnverordnung): Vor Fussgängerstreifen muss ein Fahrzeugführer besonders vorsichtig fahren und nötigenfalls anhalten, um Fussgängern den Vortritt zu lassen (Art. 33 Abs. 2 SVG). Zudem ist an den Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel auf ein- und aussteigende Personen Rücksicht zu nehmen (Art. 33 Abs. 3 SVG). Fussgänger hingegen haben die Fahrbahn vorsichtig und auf dem kürzesten Weg zu überschreiten, wenn möglich auf dem Fussgängerstreifen. Sie haben den Vortritt auf diesem Streifen, dürfen ihn aber nicht überraschend betreten (Art. 49 Abs. 2 SVG). Auf Fussgängerstreifen ohne Verkehrsregelung haben die Fussgänger den Vortritt, ausser gegenüber der Strassenbahn. Sie dürfen ihr Vortrittsrecht aber dann nicht ausüben, wenn ein Fahrzeug bereits so nahe ist, dass es nicht mehr rechtzeitig anhalten könnte (Art. 47 Abs. 2 VRV). Der Fussgänger muss deshalb prüfen, ob er den Streifen betreten kann, ohne dadurch Fahrzeuge zu brüsken Brems- oder Ausweichmanövern zu zwingen.

Nach dem Vertrauensgrundsatz darf ein Fahrzeugführer, der sich regelkonform verhält und sich einem Fussgängerstreifen ohne Verkehrsregelung nähert, grundsätzlich darauf vertrauen, dass der Fussgänger seiner Wartepflicht nach Art. 47 Abs. 2 VRV nachkommt. Allerdings muss dieses Vertrauen einem Misstrauen weichen, wenn z. B. ein Fehlverhalten eines Strassenbenützers erkennbar ist. Bei Fussgängerstreifen im Bereich von Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel ist gemäss Bundesgericht besondere Vorsicht geboten: In dieser Situation darf ein Fahrzeugführer wegen der Pflicht zur Rücksichtnahme auf ein- und aussteigende Personen nicht einfach davon ausgehen, dass diese sich ordnungsgemäss verhalten. Bei Bus- und Haltestellen kommt es häufig zu Verkehrssituationen, die ein Fehlverhalten von Fahrgästen (z. B. beim Aus- oder Umsteigen) wahrscheinlich machen. Gerade deshalb sind Fahrzeugführer dort zu besonderer Vorsicht verpflichtet. A habe zwar am Fussgängerstreifen nicht gewartet, hielt das Bundesgericht in Bezug zum vorliegenden Fall fest. X aber räume selber ein, A gar nicht beachtet zu haben. Folglich sei er seiner erhöhten Sorgfaltspflicht im Bereich von Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel nicht nachgekommen. In der konkreten Situation hätte X mehr Rücksicht nehmen und vor dem Fussgängerstreifen anhalten oder zumindest früher bremsen müssen. Das Verhalten von A sei nicht derart unvernünftig, dass damit nicht habe gerechnet werden müssem. Somit habe die Vorinstanz zu Recht eine Sorgfaltspflichtverletzung durch X bejaht. Angesichts der dauernden Beeinträchtigung der Erwerbstätigkeit von A handle es sich entgegen der Meinung von X um eine schwere Körperverletzung.

(Prozess-Nr. des Bundesgerichts 6P.217/2006 vereinigt mit 6S.484/2006)

Die BFU-Sammlung von Bundesgerichtsentscheiden

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