Fokus

Von der Romandie aus in die ganze Schweiz

Seit 50 Jahren gibt es sie: die BFU-Sicherheitsdelegierten. Im Interview schauen wir auf ihre Geschichte zurück und werfen einen Blick in ihre Zukunft. Mit Stefan Baeriswyl, dem heutigen, und Rolf Winkelmann, dem früheren Leiter der Sicherheitsdelegierten.

Ein Netzwerk, nah bei der Bevölkerung. Das forderte die BFU seit Ende der 60er-Jahre. 1973 war es so weit: die ersten Sicherheitsdelegierten in Gemeinden der französischsprachigen Schweiz nahmen ihre Arbeit auf. Zu Beginn standen die Unfallverhütung im Strassenverkehr und das Verbreiten der Kampagnen der BFU im Vordergrund. Nach und nach ergänzten immer mehr Beratungsaufgaben ihr Aufgabenspektrum. Die Idee erreichte von der Romandie aus die ganze Schweiz. Heute gibt es 1200 Sicherheitsdelegierte in allen Landesteilen und im Fürstentum Liechtenstein.

Zusammengezählt haben Sie 30 Jahre lang den Bereich der BFU-Sicherheitsdelegierten geprägt. Kann man nach so vielen Berufsjahren noch unbelastet durch eine Ortschaft gehen, ohne an Unfallprävention zu denken?

Rolf Winkelmann: Nein. Stimmt etwas nicht, fällt mir das auf. Aber nicht in jedem Fall kann man aktiv werden. Einmal war ich allerdings auf einem ganz neuen Campingplatz und musste dann einfach einen Brief schreiben, weil dort sehr viele Sicherheitsmängel bestanden. Da konnte ich einfach nicht schweigen.

Stefan Baeriswyl: Natürlich entdeckt man viele Sachen. Ganz automatisch läuft dann im Kopf eine Risikoabschätzung ab. Aber ich sehe das pragmatisch. Es muss nicht immer gleich zu einem Unfall kommen.

Bei der Entstehung des Netzwerks der Sicherheitsdelegierten wusste man noch nicht, dass dieses einst so erfolgreich wird. Dementsprechend spärlich sind Informationen aus der Anfangszeit. Wer stand für die Anfangszeit der Sicherheitsdelegierten?

Baeriswyl: Am Anfang stand die Grundidee des damaligen Direktors der BFU, Robert Walthert, dass wir als Kompetenzzentrum näher bei den Menschen sein sollen. Es sollte nicht alles zentral von Bern aus gesteuert werden, sondern am besten direkt in jeder Gemeinde, nah bei der Bevölkerung. Das Ziel war, durch den persönlichen Austausch in der Gemeinde Sicherheitsmassnahmen zu realisieren.

1973 ernannten Gemeinden in der Westschweiz ihre ersten BFU-Sicherheitsdelegierten. Bestand in der Romandie ein grösseres Interesse an Sicherheit?

Baeriswyl: In der Romandie wollte man die Wahrnehmung der BFU verstärken. Sie war in der Westschweiz weniger bekannt als in der Deutschschweiz. Darum wurde dort mit der Arbeit begonnen. Es war ein glücklicher Zufall, dass ein sehr gut vernetzter Polizeiinspektor aus der Romandie nach seiner Frühpensionierung für diese Aufgabe gewonnen werden konnte. Er besuchte die Gemeinden, zeigte ihnen die Möglichkeiten auf und überzeugte sie von der neuen Idee.

Winkelmann: Die Westschweizer Gemeinden sahen schon damals den Mehrwert. Das Pilotprojekt mit den ersten Sicherheitsdelegierten funktionierte. Dank diesem Erfolg wurden auch in der Deutschschweiz und im Tessin Chef-Sicherheitsdelegierte angestellt, die den Gemeinden das Modell der BFU näherbrachten.

Blättert man im Archiv der BFU, erhält man den Eindruck – auch aufgrund der damaligen Kommunikation – die Sicherheitsdelegierten seien zu Beginn eine Art Polizei gewesen, die durch die Gemeinden streift und Schwächen aufdeckt.

Winkelmann: Die BFU trat damals viel autoritärer auf. Und die ersten Sicherheitsdelegierten waren tatsächlich meist Polizisten. Auch lag der Schwerpunkt ganz klar auf dem Strassenverkehr. Man wollte die hohen Unfallzahlen im Strassenverkehr bekämpfen. Erkannten die ersten Sicherheitsdelegierten Fehler, zum Beispiel bei Kreuzungen oder Sichtbehinderungen, wurden sie aktiv.

Baeriswyl: Früher wurde auch viel mehr mit dem Mahnfinger kommuniziert. Zu berücksichtigen sind auch die vielen schweren Unfälle im damaligen Strassenverkehr. Es gab jedes Jahr gegen 2000 Tote. Auch gab es 1973 zum ersten Mal in der Schweiz eine Geschwindigkeitsbeschränkung ausserorts.

Winkelmann: Mit den Jahren nahm die Zahl der Strassenverkehrsunfälle ab. Der Bereich Haus und Freizeit mit den viel höheren Unfallzahlen wurde immer wichtiger. Jetzt brauchten wir Leute, die bei Bauten darauf achteten, dass beispielsweise Handläufe vorhanden und Absturzsicherungen normkonform gestaltet sind. Wir suchten die Sicherheitsdelegierten also bei den Gemeindeangestellten, die mit den Themen rund ums Bauen vertraut sind. Zum Beispiel aus der Bau- oder Liegenschaftsverwaltung, dem Werkhof oder jemand aus dem Sportamt. Gerade ein Bauverwalter kann sehr viel für die Sicherheit in seiner Gemeinde tun, wenn er bei der Erteilung der Baubewilligung die bestehenden Sicherheitsnormen durchsetzt.

Zählt nur der berufliche Hintergrund?

Winkelmann: Eine zentrale Eigenschaft ist Offenheit. Der oder die Sicherheitsdelegierte geht auf Menschen zu. Und muss wissen, wie man Fehler anspricht und diese kommuniziert. Eben nicht mit dem Zeigefinger und dem Satz: «So geht das nicht», sondern sie muss darlegen können, warum man etwas ändern sollte.

Baeriswyl: So vielfältig wie die Schweiz sind auch die Sicherheitsdelegierten. Das sind die verschiedensten Persönlichkeiten. Alle Sicherheitsdelegierten sind von der Gemeinde gewählt und angestellt. Diese setzt ihre eigenen Schwerpunkte. Deshalb sollte die Person in der Gemeinde gut vernetzt sein, Interesse haben, aktiv an der Unfallverhütung mitzuarbeiten und kontaktfreudig sein. Aber auch beharrlich am Thema dranbleiben.

Was war das Erfolgsrezept, dass es heute 1200 Sicherheitsdelegierte in der ganzen Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein gibt?

Winkelmann: Es ist ein Gewinn für beide Seiten. Eine Gemeinde erhält eine Fachperson für Sicherheitsfragen, die von der BFU aus- und weitergebildet wird und immer auf dem neuesten Stand ist. Gemeinden können damit werben, eine sichere Gemeinde zu sein, in der man gut und sicher lebt. Und die BFU erhält dort, wo Unfälle passieren, Personen, die aufmerksam sind und Beratungen für Verbesserungen durchführen. Ausserdem machen die Sicherheitsdelegierten die Kampagnen der BFU im gemeindeeigenen Plakataushang für die Bevölkerung sichtbar.

Baeriswyl: Ein Pluspunkt ist auch der direkte Kontakt zu den regional ansässigen BFU-Beraterinnen und -Beratern, zu den sogenannten Chef-Sicherheitsdelegierten und zu weiteren Fachpersonen der BFU. Sicherheitsdelegierte müssen nicht lange recherchieren, wenn sie etwas nicht wissen. Sie werden vom Chef-Sicherheitsdelegierten ihrer Region unterstützt. Und für komplexe Fragen, insbesondere zum Strassenverkehr oder zu speziellen Sport- und Freizeitanlagen, stehen ihnen die Expertinnen und Experten der BFU zur Seite.

Also stützen sich die Sicherheitsdelegierte auf das grosse Wissen der BFU. Wie sah das vor 50 Jahren aus?

Winkelmann: Das hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gewaltig entwickelt. Normen, wie zum Beispiel die Spielplatznorm, gab es vor 50 Jahren noch viel weniger. Sicherheitsdelegierte profitieren heute von einem ganz anderen Know-how.

Baeriswyl: Heute spielt es eine grössere Rolle, bei der ganzen Vielfalt von Präventionstipps zu erkennen, was das Entscheidende ist. Und wissen Sicherheitsdelegierte etwas nicht, holen sie sich Beratung. Denn das gesammelte Wissen, über das die BFU verfügt, muss ein Sicherheitsdelegierter nicht im Kopf haben. Das wäre gar nicht möglich.

Hat das Einfluss auf die Aus- und Weiterbildung von Sicherheitsdelegierten?

Winkelmann: Ursprünglich leiteten die Sicherheitsdelegierten die Anfragen für Sicherheitsberatungen einfach an die BFU weiter. Bereits mein Vorgänger erkannte diese unbefriedigende Situation und etablierte ein Aus- und Weiterbildungskonzept. Während meiner Zeit als Leiter haben ich und mein Team dieses Konzept konsequent weitergeführt und verstärkt. Vor allem weg vom früher üblichen Frontalunterricht hin zu Workshops. Nach 20-jähriger Aufbauarbeit durften wir feststellen, dass sich die Sicherheitsdelegierten von Briefträgern zu Sicherheitsberaterinnen und -beratern entwickelt hatten.

Baeriswyl: Diesen Weg gehen wir weiter. Auch den Praxisteil der Ausbildung haben wir ausgebaut. Heute haben wir beispielsweise Geländermodelle, welche angefasst werden können und die verschiedensten Lösungen zeigen. Oder ein begehbares Treppenmodell: eine Seite ideal, die andere Seite fehlerhaft. Etwas ganz Neues sind die Alterssimulationsanzüge. Mit ihnen sind Bewegung, Trittsicherheit und Sicht eingeschränkt. Diese persönliche Erfahrung und das Erkennen der Notwendigkeit eines Handlaufs oder einer gut markierten Treppe gerade für ältere Menschen vergessen die Teilnehmenden nie mehr.

Die Schweiz ist vielfältig. Stadt, Land, die Berge und das Mittelland, die Landessprachen. Gibt es regionale Unterschiede?

Baeriswyl: Die Unterschiede liegen eher in den unterschiedlichen Gemeindegrössen. Grosse Gemeinden haben mehrere Sicherheitsdelegierte, die für ein Fachgebiet spezialisiert sind, zum Beispiel Freizeitanlagen, Hochbauten oder Strassenverkehr. Kleinere Gemeinden brauchen jemanden mit dem Gesamtüberblick. Und in Berggemeinden haben Winterthemen wie Schnee und Glatteis einen anderen Stellenwert als in einer Stadt, wo es eher um Lichtsignalanlagen und Fussgängerstreifen geht. So gesehen sind Lausanne und Zürich näher beieinander als Bern und Mürren.

Winkelmann: Bei der Sensibilität sehe ich schon regionale Unterschiede. Beispielsweise sind Tessinerinnen und Tessiner noch sensibler in Bezug auf die Sicherheit ihrer Kinder. Dort hat die Sicherheit der Spielplätze einen noch höheren Stellenwert.

Wohin geht die Reise der Sicherheitsdelegierten?

Baeriswyl: Wer mit der öffentlichen Sicherheit zu tun hat, wird in der heutigen Zeit immer mehr zum Generalisten. Aufgrund der Erkenntnisse der vergangenen Jahre haben wir das Profil der Sicherheitsdelegierten angepasst. Wir wollen auch ihre Drehscheibenfunktion in der Gemeinde fördern. Und unsere Ausbildung für Sicherheitsdelegierte wird mehr in die Breite gehen und weniger in die Tiefe. Spezialwissen ist nur dann sinnvoll, wenn man es täglich braucht. Geplant ist, neben der Grundausbildung das Angebot von frei wählbaren Modulen auszubauen. Diese können bei Bedarf besucht werden. Auch wollen noch besser kommunizieren, wo überall die BFU mit Fachdokumentationen und spezialisierten Fachpersonen unterstützen kann.

Welche Rolle spielen dabei die fusionierenden Gemeinden?

Winkelmann: Der Zusammenschluss von Gemeinden ist für die Anliegen der BFU positiv. So erreichen wir deutlich mehr Menschen. Bei kleinen Gemeinden gibt es das Modell, dass sich ein Sicherheitsdelegierter um mehrere Gemeinden kümmert. Oder eine kleine Gemeinde unter 1000 Einwohnerinnen und Einwohnern holt sich die Unterstützung direkt bei der BFU.

Baeriswyl: Bei den städtischen Gemeinden mit über 10 000 Einwohnerinnen und Einwohnern haben wir eine Abdeckung von 99 Prozent erreicht. Bei den Gemeinden ab 5000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist der Wert bei 92 Prozent nur wenig tiefer. Unser Ziel ist, in jeder Gemeinde dieser Grössenordnung Sicherheitsdelegierte zu haben.

Zum Abschluss: Erinnern Sie sich an ein schönes, prägendes Erlebnis?

Winkelmann: Für mich sind es die 20 Jahre Zusammenarbeit, das gemeinsam Erreichte mit meinem Team und allen Beteiligten. Das lässt sich sehen und macht mich zufrieden. Ein tolles Erlebnis vor zehn Jahren war der Anlass 40 Jahre Sicherheitsdelegierte zusammen mit dem 75-Jahre-Jubiläum der BFU. Das werde ich nie vergessen.

Baeriswyl: Es macht mir Freude, dass alle das gleiche Ziel haben: Unfälle zu verhindern. Ein Highlight war die erste, gesamtschweizerische Informationstagung 2021. Die dazu geplanten Anlässe in den Regionen konnten wegen Corona nicht mit Publikum durchgeführt werden. Stattdessen wurde aus einem Fernsehstudio online übertragen. Ich bin glücklich, wie gut das trotz der geringen Erfahrung vor der Kamera geklappt hat und wie wir damit die ganze Schweiz erreicht haben.

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